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Integration

#IchDuWirNRW

Nordrhein-Westfalen ist ein weltoffenes Land. Die Vielfalt der Menschen und der gesellschaftliche Zusammenhalt machen unsere Stärke aus. Knapp ein Drittel der Menschen, die hier leben, haben eine Einwanderungsgeschichte. 
#IchDuWirNRW zeigt, dass gute Integration gelingt. 

Unsere Vorbilder sind mit ihren Geschichten positive Beispiele für die erfolgreiche Einwanderungsgesellschaft. Sie stehen für Einbürgerung, Werte, bürgerschaftliches Engagement und Erfolg im öffentlichen Dienst. 
Wir möchten, dass in Nordrhein-Westfalen jeder – unabhängig von seiner Herkunft – Chancen auf sozialen Aufstieg hat. 

Eko Fresh feat. #IchDuWirNRW

Für #IchDuWirNRW hat der Rapper Eko Fresh den Song „1994“ und ein Musikvideo produziert.

Das Lied thematisiert die Hoffnungen und Herausforderungen der ersten Einwanderergeneration und appelliert zugleich an die heutige Generation, ihre Chancen auf Teilhabe zu nutzen.

Video

#IchDuWirNRW Eko Fresh

04:19 Minuten

Karriere im öffentlichen Dienst der Landesverwaltung NRW

Nordrhein-Westfalen ist ein weltoffenes Land. Seit Jahrzehnten kommen Menschen aus anderen Staaten her, um hier zu leben und zu arbeiten. Sie setzen sich in vielfältiger Weise in und für NRW ein.

Die Vielfalt der Gesellschaft soll sich auch im öffentlichen Dienst widerspiegeln. Ziel der Landesregierung ist es deshalb, mehr Menschen mit Einwanderungsgeschichte dafür zu gewinnen, die Landesverwaltung aktiv mitzugestalten.

Aus diesem Grund hat die Landesregierung die Kampagne „Du machst den Unterschied“ gestartet. Hier finden Sie weitere Infos.

Zum Karriereportal NRW 

Chancenland Nordrhein-Westfalen: Teilhabe- und Integrationsbericht 2021

Die Landesregierung hat den Teilhabe- und Integrationsbericht 2021 vorgelegt. Er trägt den Titel „Chancenland Nordrhein-Westfalen.“ Nordrhein-Westfalen untermauert damit seine Stellung als bundesweiter Vorreiter einer umfassenden Integrationsberichterstattung.

Der aktuelle Bericht ist der zweite, der auf Grundlage eines gesetzlichen Auftrages erstellt wurde. Mit dem Teilhabe- und Integrationsgesetz vom 14. Februar 2012 ist die Integrationsberichterstattung in NRW auf eine gesetzliche Grundlage gestellt worden. Das grundnovellierte, am 1. Januar 2022 in Kraft getretene Teilhabe- und Integrationsgesetz NRW verpflichtet die Landesregierung in § 19 dazu, dem Landtag alle fünf Jahre einen Teilhabe- und Integrationsbericht vorzulegen, der die Bevölkerungsentwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Einwanderung (Einwanderungsmonitoring), den Stand der Integration von Menschen mit Einwanderungsgeschichte auf der Grundlage von Zielen und Indikatoren (Integrationsmonitoring) sowie die integrationspolitischen Maßnahmen und Leistungen des Landes in umfassender Weise dokumentiert und bewertet. Kernbestandteil des Teilhabe- und Integrationsberichts ist der Umsetzungsbericht zur Teilhabe- und Integrationsstrategie 2030, die vom Kabinett am 9. Juli 2019 verabschiedet wurde.  Die annähernd 200 aufgeführten Programme und Maßnahmen aus allen Ressorts sind der bisher deutlichste Beleg dafür, dass die Aussage „Integrationspolitik ist Querschnittspolitik“ in der nordrhein-westfälischen Landespolitik gelebte Realität ist.

Neben dem alle fünf Jahre erscheinenden Teilhabe- und Integrationsbericht, stellt die Landesregierung auf dem Portal www.integrationsmonitoring.nrw.de laufend aktualisierte Daten zum Stand von Einwanderung und Integration in Nordrhein-Westfalen zur Verfügung.

 

Teilhabe- und Integrationsgesetz

Integration braucht ein stabiles, rechtliches und institutionelles Fundament. Dazu wurde das „Gesetz zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe und Integration“ (Teilhabe- und Integrationsgesetz - TIntG) aus dem Jahr 2012 grundnovelliert. Das neue TIntG, das seit dem 1. Januar 2022 gilt, ist in der nordrhein-westfälischen Integrationspolitik ein weiterer Meilenstein.

Mit der Reform des TIntG setzt das Land auf mehr Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und Innovation. Nordrhein-Westfalen war das erste Flächenland, das die Förderung von Teilhabe und Integration von Menschen mit Einwanderungsgeschichte umfassend gesetzlich geregelt hat. Nun erhält es das bundesweit modernste Integrationsrecht und setzt dabei wichtige Standards in der Integrationspolitik: die Optimierung der Teilhabechancen von Menschen mit Einwanderungsgeschichte, die Stärkung des Diversitätsbewusstseins und der antidiskriminierenden Haltung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung sowie die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Mit diesem Gesetz wird das positive integrationspolitische Leitbild für das Einwanderungsland Nordrhein-Westfalen weiterentwickelt. Die integrationspolitische Infrastruktur, insbesondere in den Kommunen, wird durch eine gesetzlich vorgeschriebene, jährlich fortschreibende Mindestförderung von 130 Millionen Euro abgesichert. Flächendeckend wird das bundesweit einzigartige Kommunale Integrationsmanagement als maßgebliches rechtskreisübergreifendes Handlungsinstrument vor Ort eingeführt. Die Vernetzung aller maßgeblichen integrationspolitischen Akteure wird zur Umsetzung von Integration als Querschnittsaufgabe vorangetrieben. Der rechtliche Rahmen für ein gedeihliches, chancengerechtes, respekt- und friedvolles Zusammenleben aller Menschen in Vielfalt wird geschaffen. Damit wird auch der Einsatz gegen jede Form der Diskriminierung gestärkt.

Das neue Gesetz wurde im Landtag mit breiter Mehrheit verabschiedet. Das zeigt einmal mehr die Stärke und Zukunftsfähigkeit des seit Jahren andauernden, wertvollen und parteiübergreifenden Konsenses in der Integrationspolitik in Nordrhein-Westfalen. Mit der Aufnahme einer Evaluationsklausel wird sichergestellt, dass die neuen rechtlichen Bestimmungen im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen und integrationspolitischen Auswirkungen bis zum 31. Dezember 2025 wissenschaftlich überprüft werden.

Wenn Ismaila über Fasebretter stolpert

Es ist ein Leben „unter dem Radar“. In Nordrhein-Westfalen leben 23.000 geflüchtete, junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, die bei uns „nur“ geduldet, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Die Abschiebung kann ihnen täglich drohen. Ein Leben zwischen Frust, Angst und Hoffnung. Dabei sehen viele von ihnen ihre Zukunft in Deutschland. Die Landesprogramme „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ erkennen das Problem und ermöglichen Perspektiven. Sprachkenntnisse gelten dabei als zentraler Faktor für Integration. Wie Arbeiten und Lernen verbunden werden, zeigt ein Beispiel aus Schmallenberg im Hochsauerlandkreis.
„Anfänger und Fortgesch…?“ Ismaila Barry stockt für einen Moment und rauft sich die zotteligen Haare. „Fortgeschrittenene?“ Jutta Fischer – seine Deutschlehrerin – schmunzelt. Ganz nah, aber noch nicht richtig, scheint ihr Blick zu sagen. Aber die Deutschlehrerin hat Verständnis mit dem jungen Mann, der neben ihr sitzt. Der 20-Jährige aus Guinea ist mit der französischen Sprache groß geworden. Das erklärt so manche sprachlichen Holperer oder putzige Aussprachen. Doch eigentlich sei nicht Ismaila das Problem, sondern das Buch, mit dessen Hilfe er Deutsch lernt. Der junge Geflüchtete hat eine Ausbildungsduldung und lernt den Beruf des Baufacharbeiters bei der Firma Knoche in Schmallenberg (Hochsauerlandkreis). Gerade hat für ihn das zweite Lehrjahr begonnen. Zum Beleg blättert die Lehrerin im Schnelldurchgang durch das auf dem Tisch liegende Buch „Lernfeld Bautechnik – Grundstufe“.

Lange, verschachtelte Sätze

Jutta Fischer bleibt an einer Doppelseite hängen – Kapitel 5: ‚Herstellen einer Holzkonstruktion‘. Enge Textzeilen, mehrere Grafiken und Schaubilder. Man sieht viele Stellen, die mit gelbem Textmarker hervorgehoben wurden: ‚poröse Holzfaserplatten‘, ‚Halbfertigerzeugnisse‘. Die Sätze sind lang und verschachtelt. „Das macht es schwerer, die Fachwörter zu verstehen für Menschen mit geringen Deutschkenntnissen“, sagt Fischer.

Und wie alltagsnah und berufstauglich ist die verwendete Sprache? Selbst Firmenchef Franz-Josef Knoche stutzt, als er zwischen ‚Hobeldielen‘ und ‚Stülpschalungsbretter‘ das Wort ‚Fasebretter‘ liest. Fehlt da vielleicht ein Buchstabe? Nach kurzem Überlegen weiß Knoche was gemeint ist – nämlich abgekantete Bretter – aber ein geläufiger Begriff sei das aus dem Bauch nicht, sagt er.

Jutta Fischer arbeitet für die Berufsbildungsakademie der Volkshochschulen im Hochsauerlandkreis. Sie ist gelernte Übersetzerin und bringt seit 2015 Zugewanderten die deutsche Sprache bei – auch im Rahmen von Integrationskursen. Anfangs seien kaum berufsbezogene Lehrmittel vorhanden gewesen, sagt sie. Das hat sich etwas geändert. Inzwischen gibt es für wenige Berufsbereiche Anfängerbände, die eher Bilderbüchern gleichen – für den Bau, die Küche, Lager- oder Reinigungsberufe. Dort werden die wichtigsten Grundbegriffe anschaulich bebildert.

Fachsprache schreckt von Ausbildung ab

„Das ist nicht mehr als ein kleiner Einstieg“, sagt die Lehrerin. Das helfe in Fällen wie dem von Ismaila Barry nicht mehr. Er ist seit drei Jahren in Deutschland und zeigt sich wissbegierig und motiviert. Doch der theoretische Unterricht – noch dazu in einer fremden Sprache – ist eine Qual für ihn. Er wollte schon alles hinwerfen, sagt er. Doch die Firmenchefs und seine Betreuerinnen stimmten ihn um. So etwas gelingt nicht in allen Fällen. Jutta Fischer hatte eine Krankenpflegeschülerin, die ihren Deutschkurs abbrach, weil die Sprachanforderungen ihr zu hoch waren.

Das sei traurig und höchst ärgerlich, sagt Bauunternehmer Ulrich Knoche. „Nicht nur bei uns in der Bauwirtschaft ist der Fachkräftebedarf enorm“, sagt er. „Wir kriegen kaum noch Maurer-Azubis.“ Geflüchtete Menschen seien da sehr willkommen. Mit Ismaila habe die Firma einen „Glücksgriff“ getan. Der 20-Jährige sei freundlich und hilfsbereit. „Er kommt jeden Morgen lächelnd zum Bauhof und die älteren Kollegen nehmen ihn sehr gerne zur Baustelle mit.“

Es ist Samstagvormittag. Hinter Ismaila Barry liegt eine anstrengende 44-Stunden-Arbeitswoche. Auf einer Baustelle für ein neues Wohnhaus hat er mehrere Wände eingeschalt, Leerrohre gesetzt, eine Dämmfolie und Split gelegt. Jetzt sitzt er gemeinsam mit Jutta Fischer im kleinen Besprechungszimmer der Firma Knoche und quält sich durch deutsche Grammatik. Heute steht das Perfekt mit seinen unterschiedlichen Partizipien auf dem Programm: „Ich habe gelernt. Ich bin gefahren.“

Die Suche nach einer „Lesestrategie“

Deutsch für den Beruf auf dem Niveau B 2: das ist das Ziel, das sich Jutta Fischer für ihren afrikanischen Schüler gesetzt hat. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Bis zu zehn Stunden pro Woche könnte sie in dem durch die Landesinitiative „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ geförderten Unterricht geben. „Berufsbegleitende Sprachförderung“ nennt sich das. Allein: Es fehlt Ismaila manchmal die Zeit dafür. Gerade in den Sommermonaten „diktiert“ die Auftragslage die Arbeitszeiten in der Baubranche. Neben dem Samstag treffen sie sich gelegentlich noch einmal unter der Woche nach seinem Feierabend.

Deshalb sei es ihr wichtig, mit ihren fremdsprachigen Schülern eine „Lesestrategie“ zu entwickeln, um dadurch ihren Wortschatz – besonders den fachbezogenen – aufzubauen. Dazu gehört, z.B. als französisch-sprechender Mensch zu verstehen, dass die Wortstellung besonders bei längeren Sätzen im Deutschen anders ist als in ihrer Muttersprache. Doch diese Herangehensweise funktioniert nur, wenn man ein Mindestmaß an Schulbildung mitbringt, weiß Jutta Fischer aus Erfahrung. Sie hatte mit Frauen aus Afghanistan und Syrien zu tun – beide Analphabetinnen und mehrfache Mütter. „Da ist der Zugang zu einer fremden Sprache sehr viel schwieriger.“

Nicht so bei Ismaila Barry. Sein bester Freund ist ein Deutscher. Mit ihm kickt er in der A-Liga-Mannschaft des SV Dorlar-Sellinghausen. Auch in der Firma ist er bestens integriert, bestätigen Franz-Josef und Ulrich Knoche. „Er sieht sofort, wo Arbeit ist und fragt, was er helfen kann.“ Der junge Mann aus Guinea sieht es ebenso. „Die Arbeit auf der Baustelle macht mir viel Spaß, und die Kollegen sind immer freundlich zu mir.“ Läuft – auch sprachlich – alles glatt, möchte er die Lehre um ein Jahr verlängern, um dann Spezial-Baufacharbeiter zu sein. Dann stolpert er auch nicht mehr über „Fasebretter“.

Die Not der Flächenkreise: weite Wege und hohe Kosten

Es ist ein Leben „unter dem Radar“. In Nordrhein-Westfalen leben 23.000 geflüchtete, junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, die bei uns „nur“ geduldet, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Die Abschiebung kann ihnen täglich drohen. Ein Leben zwischen Frust, Angst und Hoffnung. Dabei sehen viele von ihnen ihre Zukunft in Deutschland. Die Landesprogramme „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ erkennen das Problem und ermöglichen Perspektiven. In dünn besiedelten Gebieten wie dem Münsterland sind die Kommunen und die mit ihnen kooperierenden Träger vor eine besondere Herausforderung gestellt. Ein Beispiel aus Lengerich im Kreis Steinfurt.

Ali Sufa hört freundlich zu und lächelt auch manchmal, wenn über ihn gesprochen wird. Doch wenn der 22-Jährige selbst über sich redet, ändert sich unvermittelt die Stimmung im Raum. Er ringt nach Worten und blickt hilfesuchend aus dem Fenster, wenn er über seine Familie in Afghanistan spricht. Mit 13 floh er vor den Taliban, die ihn als Kinder-Soldaten einziehen wollten. Sein Vater und ein Bruder starben. Allein Ali Sufas Mutter lebt noch in Afghanistan. Sein jüngster Bruder ist aktuell auf der Flucht. Ali Sufa weiß nichts über seinen derzeitigen Aufenthaltsort und hat keinen Kontakt zu ihm. Wenn er über sie spricht, wird sein Blick noch trauriger, denn der Kontakt zu ihr ist spärlich.

Es fällt schwer, den Beschreibungen dieses konkreten, menschlichen Schicksals zuzuhören. Natalie Fröhlich-Primus hat immer wieder mit ihrem jungen Klienten solche Gespräche geführt, seit sie ihn im April (2021) als Coach im Rahmen von „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ kennenlernte. Und sie weiß, dass diese Erfahrungen von Gewalt und Tod nicht aus Ali Sufas Kopf verschwinden, Alpträume erzeugen und Schlaflosigkeit. Auch im fernen Münsterland. Auch in der friedlichen 22.000-Einwohner-Stadt Lengerich.

Acht Monate dauerte die Flucht, bis er in Lengerich landete. Hier hat er mittlerweile den Hauptschulabschluss gemacht und lebt mit einem Mann aus Sri Lanka in einer kleinen Wohngemeinschaft. Doch wie nun weiter? Ali Sufas Identität ist geklärt. Er hat eine Duldung und ist als Vollzeitkraft in einem kleinen, familiären Garten- und Landschaftsbaubetrieb tätig. Es gefällt ihm, an der frischen Luft zu arbeiten, erzählt er.

Gretchenfrage: Ausbildung oder Arbeiten?

Der Chef des GALA-Betriebs würde ihn lieber heute als morgen übernehmen, sagt Coach Natalie Fröhlich-Primus. Genau an dieser Stelle beginnt der Konflikt. Die Ausländerbehörde empfiehlt ihm, in der Firma eine dreijährige Lehre zu beginnen. Dies könne sich positiv auf seine Bleibeperspektive auswirken. Der junge Afghane will aber lieber als „normale“ Vollzeitkraft mitarbeiten. Des Geldes wegen. Er möchte bald den Führerschein machen, sich ein eigenes Auto zulegen – und am besten auch eine eigene Wohnung haben. Selbst an den „worst case“ denkt er. „Sollte ich abgeschoben werden, habe ich wenigstens ein kleines finanzielles Polster in Afghanistan.“

Natalie Fröhlich-Primus arbeitet in Lengerich für den Verein Lernen fördern e.V. und sitzt nun als Coach „zwischen den Stühlen“. Auch sie hält eine Ausbildung tendenziell für die bessere Lösung. Sie kennt aber auch Ali Sufas Argument, dass er die berufsbezogene Sprache („das GALA-Deutsch“) am besten als normaler Beschäftigter bei der täglichen Arbeit auf der Baustelle lernt, um mit diesem Wissen gut vorbereitet in die Berufsschule zu gehen. Beides – Sprachkompetenz und Berufskenntnisse – fördert Integration.

Die Anbindung an den ÖPNV

Was die Integrationsarbeit dagegen erschwert, ist die geografische Situation für Ali Sufa und die anderen. Der Kreis Steinfurt ist flächenmäßig der zweitgrößte in Nordrhein-Westfalen. Die Ost-West-Ausdehnung beträgt rund 60 Kilometer; in Nord-Süd-Richtung sind es mehr als 50 Kilometer. Die jungen Geflüchteten mit Duldung oder Gestattung leben in 24 Städten und Gemeinden weit entfernt voneinander. Zum Zeitpunkt der Antragstellung für das Teilhabemanagement zählte die Verwaltung etwa 750 potenziell Teilnehmende (Geduldete oder Gestattete zwischen 18 bis 27 Jahren).  Umgerechnet bedeutet das: In kleineren Kommunen sind es teilweise weniger als 20 Männer und Frauen.

Damit stecken die Verantwortlichen (und die Geflüchteten) in einer völlig anderen Situation als wären sie in einem Ballungsgebiet. Sie müssen lange Wege auf sich nehmen. Es kostet im Öffentlichen Personennahverkehr Zeit und Geld, um andere Menschen zu treffen oder an Förderangeboten teilzunehmen. Geld, das nach bestehender Rechtslage nicht erstattet wird. Zudem leben die Geflüchteten häufig am Rande der Ortschaften, die nicht immer optimal in die vorhandene Infrastruktur einbezogen sind, weiß Coach Natalie Fröhlich-Primus.

Die Konsequenz: Die Umsetzung des Sprachförderangebots im Rahmen von „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ ist aufgrund der Verteilung der potentiell Teilnehmenden, den Fahrtzeiten und unterschiedlichen Arbeitszeiten schwierig, wird aber weiterhin mit allen Beteiligten geplant. Und auch die Coaches stehen in Flächenkreisen vor größeren Herausforderungen als ihre Kollegen in der Großstadt. „Ein Betreuungsverhältnis von 1:20 – das Voraussetzung für die Förderung der Träger ist – war teilweise nur schwer einzuhalten“, sagt Stephanie Hieronimus vom Kommunalen Integrationszentrum des Kreises. Von den zusätzlichen Beschränkungen durch Corona-Auflagen ganz zu schweigen.

Bescheidener Wunsch: eine kleine Familie

Bei diesen erschwerten Bedingungen ist sie zufrieden, dass so viele junge Geflüchtete im Kreis Steinfurt überhaupt „bei der Stange“ geblieben sind. Bisher wurden über 200 Personen durch das Teilhabemanagement in das Programm aufgenommen, wovon 133 aktuell aktiv im Coaching beraten werden. „Das ist eine sehr erfreuliche Zahl, wenn man bedenkt, dass es sich um ein freiwilliges Programm handelt“, so Stephanie Hieronimus.
Die Bausteine Teilhabemanagement (3,5 Stellen) und Coaching (5,0 Stellen) werden flächendeckend im Kreis Steinfurt angeboten. Neben dem Träger Lernen fördern e.V. werden die Angebote vom Bildungsinstitut Münster e.V., dem Begegnungszentrum für Ausländer und Deutsche e.V. und der Stadt Rheine durchgeführt.

Die Projektkoordinatorin ist optimistisch, dass es mehr Fälle wie Ali Sufa aus Afghanistan geben wird, wo über das Berufsleben eine Integration in die hiesige Gesellschaft ermöglicht wird. Sie lobt die Bereitschaft der Firmen, Geflüchteten mit Duldung eine Chance zu geben. Auch wenn die bürokratischen Hürden abschreckend wirken können.

Der Lengericher Gartenbaubetrieb hält an Ali Sufa fest. Auch wenn sein Asylantrag bereits dreimal abgelehnt wurde. Was seine Wünsche für die nächsten Jahre sind? „Ich möchte gerne eine kleine Familie haben – ohne Stress und Sorgen. Das ist doch ein bescheidener Wunsch, oder“, fragt er und guckt in die Runde. Im Raum herrscht Schweigen.

In Brühl findet Integrationsarbeit ohne Umwege statt

Es ist ein Leben „unter dem Radar“. In Nordrhein-Westfalen leben 23.000 geflüchtete, junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, die bei uns „nur“ geduldet, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Die Abschiebung kann ihnen täglich drohen. Ein Leben zwischen Frust, Angst und Hoffnung. Dabei sehen viele von ihnen ihre Zukunft in Deutschland. Die Landesprogramme „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ erkennen das Problem und ermöglichen Perspektiven. Ein Erfolgsfaktor ist die persönliche Nähe zu den Geflüchteten. So kann es hilfreich sein, wenn auch kreisangehörige Städte eine eigene Geschäftsführende Stelle (GfS) installieren, wie ein Beispiel aus dem Rhein-Erft-Kreis zeigt.

Verstreutes Spielzeug, kleine Stühle, ein Janosch-Poster an der Wand: hier sieht es aus wie in einer gewöhnlichen Kindertagesstätte. Durch die lustig beklebten Fensterscheiben erkennt man ein Klettergerüst im Garten. Auch das passt ins Bild. Trotzdem ist das keine „normale“ Kita, sondern der Kinderbetreuungsbereich im KOMM-MIT, dem städtischen Integrationszentrum im rheinischen Brühl. Das Gebäude ist gleichzeitig Sitz der Geschäftsführenden Stelle in der Landesinitiative „Gemeinsam klappt’s“ und einer angestellten Teilhabemanagerin.

Für Pascal aus Guinea und seine Frau hat dieser Ort einen unschätzbaren Wert. Er arbeitet als Lagerist in der Nähe, und zeitgleich kann seine Frau an einem Deutsch-Kurs in der oberen Etage des KOMM-MIT teilnehmen. Das wäre für sie nicht möglich, wüsste sie nicht ihre quicklebendigen Kinder Alassan (vier Jahre alt) und Soumaila (3) hier in sicherer Obhut. Die Sprachkurse richten sich eindeutig an Familien mit Kindern. Ein weiterer Effekt: „Die Frau kommt auf diese Weise mal raus und kriegt Kontakte über die eigene Gruppe hinaus“, sagt Daniela Kilian, Integrationsbeauftragte der Stadt Brühl und Leiterin der Geschäftsführenden Stelle.
 

Spontan-Beratung auf dem Kita-Boden

Jetzt fällt es den jungen Eltern regelrecht schwer, ihre Kinder von den Spielsachen loszureißen. Zeit für ein kurzes Gespräch mit Teilhabemanagerin Jolanta Anna Stachlewitz, die bei dieser Gelegenheit erfährt, das Pascal nicht auf Dauer in der Logistik bleiben möchte, sondern eine Klempner-Lehre anstrebt. Ad-hoc-Beratung auf dem Boden des Spielzimmers: „Dafür brauchst Du ausreichende Deutschkenntnisse, und dann können wir auch einen Praktikumsbetrieb für Dich suchen.“

Es ist dieser besondere Ansatz der umfassenden Begleitung, der sog. „Bildung von Betreuungsketten“, auf den die Integrationsarbeit in Brühl setzt. „Gesteuert ‚aus einer Hand‘, aber umgesetzt in Kooperation mit Institutionen und Trägern im sachlichen und fachlichen Kontext“, erklärt Daniela Kilian. Das war auch der Grund, warum die 46.000-Einwohner-Stadt Brühl im November 2019 sich als eine der ersten kreisangehörigen Kommunen in NRW um die Einrichtung einer Geschäftsführenden Stelle der Landesinitiative „Gemeinsam klappt’s“ bewarb.
„Dass Brühl eine eigene Geschäftsführende Stelle im Rahmen der Landesinitiative einrichten konnte – und damit auch eine Teilhabemanagerin mit einer halben Stelle gefördert werden kann - ist für die Arbeit vor Ort eine unglaubliche Bereicherung“, so Bürgermeister Dieter Freytag. „Die Erfolge sprechen für sich.“

Das war der richtige Schritt, bilanziert Daniela Kilian. Sie ist sogar ein wenig stolz, dass Brühl hier Pionierarbeit leistet. „Nah dran sein an den Menschen“, sei wichtig, bestätigt Teilhabemanagerin Stachlewitz. „So baut man vor Ort Vertrauen auf und motiviert die Menschen.“ Für die Geflüchteten und ihre Familien erscheint die Kreisstadt Bergheim häufig weit entfernt.
 

Persönliche Ansprache steigert die Akzeptanz

Stachlewitz sieht sich als Bindeglied zu weiteren (noch zu involvierenden) Institutionen und fungiert als Wegweiser in einem oftmals undurchsichtigen „Dschungel“ bürokratischer Anforderungen. „Es hat sich herausgestellt, dass der persönliche Kontakt, die persönliche Ansprache und Begleitung die Akzeptanz unserer Angebote um ein Vielfaches erhöht oder überhaupt erst ermöglicht.“
Dabei legt man in Brühl einen besonderen Fokus auf junge Erwachsene, die zusätzliche Hemmnisse mitbringen: sei es, dass sie eine Kinderbetreuung benötigen, mangels Deutschkenntnissen keine Stelle finden oder keinen Schul- bzw. Berufsabschluss vorweisen können.

Omar Diallo aus Guinea nimmt auch an dem Sprachkurs teil. Besonderer Vorteil für ihn, der in Wechseldiensten arbeitet: Die Deutschklasse wird in zwei Schichten (9 bis 12.30 Uhr sowie 17 bis 20 Uhr) angeboten. Aber auch sonst ist das offene Begegnungs-Café im Erdgeschoß des KOMM-MIT (das steht für „Kommunales Miteinander“) für ihn ein regelmäßiger Treffpunkt. Eine Tauschbörse für Informationen. Hier lernte er einen ehrenamtlichen Brühler kennen, der ihm Kontakte zu einem örtlichen Amateur-Fußballclub verschaffte. Inzwischen spielt er  zweimal pro Woche mit.  „Unbürokratisch, flexibel, vor Ort“ – lautet für Daniela Kilian die Erfolgsformel, die sie auch anderen Städten in Flächenkreisen ans Herz legt.
 

Umfassende Datenbasis für künftige Aufgaben

 Das klingt zunächst nach „Mehraufwand“ für die kreisangehörige Kommune, erweist sich im Endeffekt aber als Gewinn. „Es schont Ressourcen, denn wir können uns direkt mit anderen Geschäftsführenden Stellen austauschen und in Einzelfällen auch direkt mit dem Ministerium Kontakt aufnehmen“, sagt Kilian.

Nebenbei werden bei dieser intensiven Integrationsarbeit vor Ort auch wertvolle Informationen erfasst. Brühl macht Befragungen und führt Buch über seine Arbeit. Die Ergebnisse werden in einer so genannten Klientendatei dargestellt und kommuniziert. „Am Ende steht eine Datenbank mit Erkenntnissen, die in anonymisierter Form weiter ans Land gegeben werden“, sagt Daniela Kilian.

Es ist ein Fundus von Informationen, der über die Projektzeit von „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten“ hinaus wichtig sein wird, glauben die Praktikerinnen vor Ort. Dann wird das Kommunale Integrationsmanagement - nicht nur in Landkreisen wie dem Rhein-Erft-Kreis - vor weiteren Herausforderungen stehen.

Für Teilhabemanagerin Jolanta Anna Stachlewitz sind nicht nur Zahlen ausschlaggebend. Der Erfolg der persönlich ausgerichteten Integrationsarbeit zeigt sich für sie in kleinen Dingen. Ein Geflüchteter aus Nigeria mit einer langjährigen Aufenthaltsgestattung hat ihr kürzlich mitgeteilt, er wolle nun seinerseits als Ehrenamtlicher tätig werden.

Beratung mit Bewegung – in Hattingen sind Coaches Helfer und Therapeuten

Es ist ein Leben „unter dem Radar“. In Nordrhein-Westfalen leben 23.000 geflüchtete, junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, die bei uns „nur“ geduldet, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Die Abschiebung kann ihnen täglich drohen. Ein Leben zwischen Frust, Angst und Hoffnung. Dabei sehen viele von ihnen ihre Zukunft in Deutschland. Die Landesprogramme „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ erkennen das Problem und ermöglichen Perspektiven. Ein zentraler Bestandteil ist die individuelle Betreuung durch Coaches. Wie deren Arbeit aussehen kann, zeigt ein Beispiel aus Hattingen im Ennepe-Ruhr-Kreis.

Wasula stutzt für einen Moment. Er soll sich auf der Stelle bewegen, um ordentlich alle Körperteile zu lockern? Christina Große Munkenbeck meint das ernst und zum Beweis fängt sie selbst an, mit den Armen zu kreisen und sich in den Hüften tänzerisch zu bewegen.  Wasula, der noch in seiner Arbeitskleidung zu dem heutigen Coaching-Gespräch gekommen ist, macht mit. Wenn auch zunächst etwas zögerlich.

Zwei Menschen – Arme wedelnd und tänzelnd in einem Besprechungszimmer der Caritas in Hattingen: eine rätselhafte Szenerie. Doch Christina Große Munkenbeck hat diese Übung am Beginn des heutigen Gesprächs mit Bedacht gewählt. Die Körperübungen dienen der Reorientierung, sagt sie. „Es geht darum, Wasula wieder im Hier und Jetzt zu verankern.“ Menschen mit Traumatisierungen geraten schneller mit ihrer Aufmerksamkeit in eine andere Zeit mit anderen Gefühlszuständen. Das beginnt damit, die Außenstellen des Körpers bewusst wahrzunehmen. Doch im Augenblick spürt Wasula vor allem seine Beine. Er arbeitet als Raumpfleger und musste heute schon viele Stockwerke rauf und runter laufen.
 

Coach ist auch Trauma-Fachberaterin

Der junge Geflüchtete aus Afghanistan ist einer von zehn - durchweg männlichen - Klienten von Christina Große Munkenbeck. Nicht mit allen macht sie solche, fast schon bewegungstherapeutische Übungen; nicht bei allen ist das nötig. Sie ist studierte Sozialarbeiterin und hat eine einjährige Zusatzqualifikation zur Trauma-Fachberaterin gemacht. Sie kennt die „Bilder“, die Wasula belasten und in Alpträumen bis in den Schlaf verfolgen. Es sind Erlebnisse während des Kriegs in seiner Heimat. Mit 16 floh er nach Deutschland. Jetzt ist er 22.

In den ersten Gesprächen habe er kaum ein Wort rausgekriegt, erinnert sich Christina Große Munkenbeck. Jetzt erzählt er in passablem Deutsch von der Kündigung, die er vor ein paar Tagen für sein Zimmer in einer Sammelunterkunft in Hattingen bekommen hat. Das scheint ihn aber nicht in Panik zu versetzen. Durch die Arbeit mit seinen Coaches hat er inzwischen erfahren, dass er über sie in ein Netzwerk von Unterstützern eingebunden ist, die ihm in allen Alltagslagen helfen wollen: vom Sozialamt über die Arbeitsagentur bis zur kommunalen Wohnungsgesellschaft.
 

Der Wunsch nach einem „normalen“ Leben

Kontinuität in der Betreuung, immer gleiche Gesichter als Ansprechpartner: das ist die neue Qualität des individuellen Coachings durch das Programm „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ des Landes. Auch Branko Wositsch (56) arbeitet bei der Caritas als Coach in Hattingen und im benachbarten Niedersprockhövel (EN-Kreis). Aktuell betreut der Diplom-Pädagoge mehr als 15 Männer und Frauen aus verschiedenen Ländern. Was sie eint, ist ein Mix aus Resignation, Frust und Angst. „Es ist der Wunsch nach einem normalen und sicheren Leben, der in uns allen steckt", sagt Branko Wositsch.

Als Erstes sichtet das Berater-Team die Unterlagen ihrer Klienten. Oft fehlen Papiere, besonders ein Pass. Wositsch: "Bis die Identitätsangaben sicher sind, geht vieles nicht." Ein Begriff, den er in diesem Zusammenhang immer nennt, ist: Vertrauen. Doch wie soll das klappen in einer Welt, die in den Augen von Geflüchteten voller bürokratischer Hürden ist? „Manche wollen arbeiten, dürfen aber nicht. Andere haben eine Arbeitsgestattung, die ist aber häufig befristet auf wenige Monate. Deshalb zögern die Arbeitgeber, weil auch sie längerfristige Planbarkeit brauchen.“ Hier sieht er seine Aufgabe darin, immer wieder zu motivieren, nicht aufzugeben, Perspektiven zu eröffnen. Im Gespräch – und darüber hinaus durch konkrete Vermittlungen. Wobei für ihn eines an erster Stelle steht: „Deutsch zu lernen, ist das Wichtigste“, macht Wositsch seinen Klienten immer wieder klar.

Das erleichtert nicht nur die Suche nach einer Beschäftigung, sondern es verhindert auch folgenschwere Fehlentscheidungen. Ein Dauerbrenner für die Coaches sind meist völlig überteuerte Verträge. Egal ob Handy-Vertrag oder Muckibude: Irgendwann sitzen sie vor ihm und zücken verschüchtert Briefe mit Mahnungen aus der Tasche. „Wir sagen immer: Unterschreibt nirgendwo etwas!“ Und trotzdem passiert es…
 

Sprachkurs mit Kinderbetreuung gesucht

Zurück zu seiner Kollegin Christina Große Munkenbeck, die mit ihrem afghanischen Klienten jetzt eine sitzende Übung auf dem Stuhl macht, das sog. Abfragen eines Ressourcen-Barometers. Wasula soll eine Stelle seines Körpers besonders intensiv spüren. Das sind bei ihm jetzt die Unterarme, die auf der Stuhllehne ruhen. Auch hier geht es wieder darum, mehr auf den Körper zu achten. Eine weitere Spezialübung dient dazu, lähmende Gedanken und schlimme Bilder der Erinnerung selbstständig zu regulieren – wenn sie auftauchen.

Dann reden sie über die „Hausaufgaben“, die Wasula in der vergangenen Woche aufbekommen hatte. Der junge Mann lächelt verlegen. Er sollte seine Wünsche und Ziele in knappen Worten formulieren. Schriftlich hat er es nicht getan. Also, fassen sie es gemeinsam zusammen und die Betreuerin notiert: eine neue Wohnung, Sport in der Freizeit, mehr Schlaf. Der Mann schläft nur vier bis sechs Stunden die Nacht, erzählt er. Immer diese Ängste und Gedanken…

Branko Wositsch hat derweil ein anderes Problem auf dem Schreibtisch. Eine junge Frau aus Syrien, gerade 18, hat hier ein Kind bekommen. Sie zieht zum Kindesvater (nach Hattingen), dann wieder zurück zu den Eltern. „Das junge Paar ist mit der Situation völlig überfordert“, stellt Wositsch fest. „Von der prekären finanziellen Lage ganz zu schweigen.“ Jetzt ist die junge Frau wieder nach Hattingen gekommen. Sie möchte Deutsch lernen und dann arbeiten. Keine einfache Aufgabe für den Coach, der nun einen Sprachkurs suchen wird, bei dem auch eine Kinderbetreuung möglich ist.
 

Motivation: Nächstenliebe und Hoffnung

Solche Schicksale rühren die Coaches an. Doch sie müssen Distanz bewahren. Christina Große Munkenbeck wirkt offen, freundlich und zugewandt: aber sie zieht auch eine klare Grenze. Private Annäherungen mit den Klienten lehnt sie ab. Sieht man von kleinen Geschenken für sie etwa anlässlich des muslimischen Ramadanfestes ab.

Was motiviert die Coaches? Bei Christina Große Munkenbeck ist es Hoffnung. „Ich glaube daran, dass sich fast jedes Problem lösen lässt oder zumindest so behandelt werden kann, dass sich ein besseres Gefühl einstellen kann. Das möchte ich gerne weitergeben an diese Zielgruppe, welche sehr dankbar ist.“ Branko Wositsch empfindet „sehr, sehr viel Freude“ bei seiner Arbeit und spricht von „Nächstenliebe“. Dazu hat ihn seine eigene Biografie geprägt. Ende der 1960er Jahre zog seine Familie – Teil der deutsch-stämmigen Minderheit - aus dem heutigen Slowenien weg und erlebte viel Unterstützung hierzulande. „Davon möchte ich jetzt etwas zurückgeben."

Bohnen, Gurken und Tomaten – ein Ackerland-Projekt macht Integration möglich

Es ist ein Leben „unter dem Radar“. In Nordrhein-Westfalen leben 23.000 geflüchtete, junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, die bei uns „nur“ geduldet, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Die Abschiebung kann ihnen täglich drohen. Ein Leben zwischen Frust, Angst und Hoffnung. Dabei sehen viele von ihnen ihre Zukunft in Deutschland. Die Landesprogramme „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ erkennen das Problem und ermöglichen Perspektiven. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, die jungen Migrant*innen aus der sozialen Isolation zu holen. In ländlichen Gebieten ist das eine besondere Herausforderung. Ein Ackerland-Projekt aus dem Kreis Borken zeigt, wie es gelingen kann.

Der Hahn kräht. Ausdauernd. Besucher zucken zusammen. Mamudow Keita nicht. Er hat sich an den schneidigen Ton des stattlichen Federviehs längst gewöhnt. Ungerührt schlendert er durch die Beete mit Salaten, Wurzelgemüse und hochstehenden Bohnen. Und fachsimpelt mit Norbert Laurich darüber, ob die Zucchini wohl bald erntereif sind.

Der 23-jährige Mann aus Guinea hätte sich vor einigen Monaten wohl kaum vorstellen können, dass er ein Leben zwischen Hahnenschrei und Kartoffelreihen führen würde. Jetzt möchte er es nicht missen. Es gibt Halt und Struktur in seinem Alltag. „Dreimal die Woche Deutschkurs, zweimal hier auf dem Hof – das ist mein Plan für die Woche“, sagt Keita. Eine feste Wochenstruktur, also: genau das wollte Norbert Laurich erreichen. Geflüchtete mit Duldung wie Keita brauchen neben dem geförderten Sprachkurs ein niederschwelliges Angebot, um sie allmählich mit Leben und Gesellschaft in Deutschland zu vernetzen.

Erst Praktikum – jetzt Minijob

Nach einem sechswöchigen Praktikum hat er Mamudow Keita jetzt als 450-Euro-Kraft eingestellt. Es hätten auch mehr sein können. Doch von sieben anfänglichen Kandidaten blieb nur der Mann aus Guinea dabei. Finanziert wird das Pilotprojekt aus Mitteln des Landesprogramms „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ sowie mit einem einmaligen Zuschuss der Stadt Vreden.

Den Rest nimmt Norbert Laurich auf seine Kappe – als „ehrenamtlicher Arbeitgeber“, sozusagen. Zusammen mit seinem Partner hat er den abgelegenen Hof 2014 übernommen. Er liegt günstig an der sog. Flamingo-Route, einem beliebten Radrundweg im deutsch-niederländischen Grenzgebiet. Es handelt sich um eine Art „Abhol-Hof“, wo Interessierte regionale Produkte selbst ernten können. Ein anderer Teil wird vermarktet bzw. verarbeitet.
Rechnerisch reicht die Fläche für die Versorgung von 30 Haushalten. Doch Laurich will expandieren. Das Projekt soll sich rechnen. Da kommt der Kaufmann in ihm durch. Ein Geschäftsmann mit politischem Engagement.

Traumatische Fluchterlebnisse

Für ihn war es eine Art Rückkehr, denn er stammt aus der Gegend. Zuvor hat er 20 Jahre lang in der Textilindustrie gearbeitet. Als Einkäufer für deutsche Klamotten-Discounter hat er einige der Fluchtländer erlebt, hat die Arbeitsbedingungen gesehen: niedrige Löhne, Kinderarbeit, Gesundheitsgefahren. „Irgendwann konnte ich dieses Maß an Ausbeutung durch unser Konsumverhalten nicht mehr ertragen“, sagt Laurich über den Moment, als er einfach nur „aussteigen“ wollte. „Jetzt will ich etwas zurückgeben“, beschreibt er seine Motivation für die Arbeit mit den Geflüchteten.

Bei einem Besuch in einer Flüchtlings-Unterkunft für afrikanische Geflüchtete lernte er Mamudow Keita vor drei Jahren kennen: ihn und seine Fluchtgeschichte, die eine Ansammlung von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch ist. Und für ihn wurde klar, warum diese jungen Männer misstrauisch sind. „Wenn Keita erzählt, wie demütigend er seine erste körperliche Untersuchung bei einer Polizeibehörde in Süddeutschland empfand, dann versteht man, warum er deutschen Behörden nicht traut“, ist sich Laurich sicher. „Vertrauen aufbauen“ ist eine Vokabel, die er immer wieder benutzt.

Dezentral: wenig Menschen, weite Wege

Die Umsetzung der Landesprogramme „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten“ findet im ländlichen Vreden (Kreis Borken) unter anderen Voraussetzungen statt als in einer Großstadt. „Herausfordernder“, beschreibt es Andrea Dingslaken, die Integrationsbeauftragte der 23.000-Einwohner-Stadt.

Die Unterbringung der Geflüchteten ist dezentral organisiert, verteilt sind sie auf gut ein Dutzend verschiedene Häuser in den einzelnen sog. Kirchdörfern, die für Vreden typisch sind. Oberflächlich scheinen die Geflüchteten somit „verschwunden“ zu sein. „So entstand in der Öffentlichkeit der falsche Eindruck, wir hätten keine Flüchtlinge in der Stadt und es müsse nichts getan werden“, sagt Sozialdezernent Bernd Kemper.

Umgekehrt ist es „auf dem Land“ schwieriger, die Geflüchteten zu erreichen. Sie wohnen weit außerhalb in Unterkünften, die schlecht angebunden sind mit Bus oder Bahn. „Aber“, so gibt Andrea Dingslaken zu bedenken“, es gibt aus Sicht der Geflüchteten auch keine attraktiven Orte oder Treffpunkte wie in einer Metropole, wo die Menschen automatisch zusammenkommen.“

Ehrenamtliches Engagement ist der Schlüssel

Somit haben die aufsuchende Betreuung und das ehrenamtliche Engagement aus der Bürgerschaft einen hohen Stellenwert. „Ohne dieses Engagement wäre eine so individuelle Betreuung von uns weder auf Kreisebene noch in der Stadt zu leisten“, sagt Sandra Schulz-Kügler vom Kommunalen Integrationszentrum (KI) des Kreises Borken. „Deshalb sind Ansätze wie das Hofprojekt von Norbert Laurich so wichtig und erfolgreich Am Nachmittag sitzt der Genannte mit Mamudow Keita bei einer Tasse Kaffee in der Hof-Küche. „Ich bin sehr dankbar für die viele Hilfe, die ich hier bekomme“, sagt Keita. Es herrscht eine gelöste, fast schon familiäre Atmosphäre. „Er ist als Mensch eine solche Bereicherung für uns“, schwärmt Laurich. Die bisherigen Erfahrungen sind positiv: Keita hilft beim Aussäen, bei der Ernte, kocht Marmelade ein, beschriftet die Gläser, redet im Hofladen mit Besuchern und berechnet die Flächenaufteilung.

Nach einigem Zögern kommt Keita jetzt auch seiner rechtlichen Verpflichtung nach und kümmert sich aktiv um Geburtsunterlagen in seinem Heimatland. Er will seine Identität klären für die deutschen Behörden. „Ein Riesen-Fortschritt“, meint Norbert Laurich. „Es zeigt, dass er allmählich Vertrauen zu uns fasst.“ Und trotzdem weiß er, wie instabil die Situation ist. Am Wochenende ist Keita mit seinen Landsleuten und Freunden in ihrer Unterkunft. „Dort werden dann Horrorgeschichten von drohenden Festnahmen und Abschiebungen erzählt, die für große Unruhe sorgen.“

Ein „Runder Tisch“ für Keita

Inzwischen kümmert sich eine Art „Runder Tisch“ um Mamudow Keita: Stadt, Kreis, Arbeitsagentur und die Coaching-Agentur Berufsbildungsstätte Westmünsterland (BBS) koordinieren ihr weiteres Vorgehen. Auch Coach Nadine Wetzel musste zunächst Vorbehalte bei Keita abbauen und kleine Alltagsprobleme, z.B. mit der Krankenkasse, für ihn lösen. „Als nächstes loten wir aus, in welche Richtung seine beruflichen Interessen gehen“, sagt Wetzel. Ist der Berufszweig identifiziert, wird sie schauen, welche sprachliche Unterstützung Keita dann braucht oder ob Maßnahmen der beruflichen Orientierung durch die Landesprogramme förderfähig sind. Sicher ist für sie: „Mit der Teilnahme am Ackerland-Projekt signalisiert Herr Keita potenziellen Arbeitgebern, wie zuverlässig sie mit ihm planen können.“

Der Hahn schreit immer noch unaufhörlich, als Mamudow Keita und Norbert Laurich erneut durch die Reihen mit Dutzenden verschiedener Tomaten-Sorten gehen. Nicht alle sind gleich erfolgreich angegangen. „Das merke ich mir für nächstes Jahr“, sagt der Mann aus Afrika lachend. „Nächstes Jahr bist Du hoffentlich nicht mehr hier“, antwortet Norbert Laurich spontan. Das klingt wie ein barscher Rauswurf, ist aber nicht so gemeint. Im Gegenteil: „Nächstes Jahr“, so hoffen in Vreden alle, die den Mann aus Guinea kennengelernt haben, ist er bereits in eine Berufsausbildung „durchgestartet“.

Wie Ayo ein „bemöbeltes“ Zimmer in Duisburg fand…

Es ist ein Leben „unter dem Radar“. In Nordrhein-Westfalen leben 23.000 geflüchtete, junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, die bei uns „nur“ geduldet, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Die Abschiebung kann ihnen täglich drohen. Ein Leben zwischen Frust/ Angst und Hoffnung. Dabei sehen viele von ihnen ihre Zukunft in unserer Gesellschaft. Die Landesprogramme „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ erkennen das Problem und ermöglichen Perspektiven. Junge Migrantinnen wie Ayo aus Nigeria packen diese Gelegenheit beim Schopf.

Sie guckt offen und geradeaus; ihr schüchternes Lächeln fängt jeden sofort ein. Ayo lebt nicht einmal zwei Jahre in Duisburg und spricht bereits ein verblüffend gutes Deutsch. Nur mit dem Schreiben tue sie sich schwer, sagt die 19jährige…und dann lächelt sie wieder.

Ayo ist eine von mehr als 500 geduldeten oder gestatteten jungen Erwachsenen in Duisburg, zu denen die Projektmitarbeitenden laut Auftrag Kontakt aufnehmen sollten. Etwa knapp die Hälfte von ihnen nimmt an einem der Programm-Bausteine teil oder steht derzeit in Kontakt zu einem der beauftragten Träger.

Die positive Einstellung der jungen Frau ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass ständig das Damokles-Schwert der Abschiebung über ihr schwebt. Von ihrer Fluchtgeschichte über das Mittelmeer und Italien ganz zu schweigen. Wenn sie darüber spricht, kann man die Dramatik nur erahnen. Sie lässt sich nicht anmerken, wie sehr sie die daraus folgende Trennung von ihrer Mutter belastet.

Erster Schritt: Schulabschluss

Ayo, die mit vollem Namen Ayomide Awosile heißt, erzählt von der gerade absolvierten Prüfung für den Hauptschulabschluss. Marion Rossocha und Sebastian Schneider hören interessiert zu. Man spürt: das hier ist für sie mehr als ein Job. Sie haben die junge Frau im August 2020 kennengelernt und sich sofort an die Arbeit gemacht: Rossocha (Diakoniewerk) in der Funktion eines Coaches; Schneider (Volkshochschule) mit den Aufgaben eines Teilhabemanagers.

Erstes Ziel: der nachträgliche Schulabschluss. In eine Regelschule kann Ayo nicht; für den Unterricht bei privaten Schulträgern fehlt das Geld. Die Lösung findet Sebastian Schneider in seinem eigenen Haus: ein Kurs bei der Volkshochschule Duisburg. Der kostet nur eine Teilnahmegebühr von 50 Euro pro Semester. Auch dieser Betrag scheint zunächst noch eine Hürde für die junge Frau zu sein, doch es findet sich ein Ausweg.

Netzwerke helfen

Und zwar durch einen persönlichen Kontakt zum Sprach-Café für arabische Frauen in Duisburg-Mitte. Die nahmen gerne daran teil, waren aber regelmäßig durch ihre Kinder, die sie mitbringen müssen, abgelenkt. Die Lösung: es müsste ein junger, freundlicher Mensch gefunden werden, der sich mit den Kindern in dieser Zeit beschäftigt – ehrenamtlich für eine kleine Aufwandsentschädigung von 50 Euro. „Der ideale Job für unsere Ayo“, befand Marion Rossocha. Gesagt – getan: eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.

Wöchentliche Teamsitzung

Die beiden Betreuer von Ayo stehen nicht allein. Sie sind Teil eines Netzwerkes, das sich jeden Mittwoch austauscht: bis zu 14 Personen. Teilhabemanager*innen, Coaches, Geschäftsführende Stelle und Anlass bezogen weitere Gäste sitzen im Team zusammen - pandemiebedingt (aktuell noch!) per Video-Schalte. Ein unauffälliger Zirkel, von der Duisburger Öffentlichkeit unbeachtet, aber von seiner Wirkung nicht zu unterschätzen. „Was wir hier machen, spart der Stadt richtig Geld“, sagt einer aus der Runde. Nämlich immer dann, wenn ein junger Erwachsener „auf eigenen Beinen“ stehen kann und keine Transferleistungen bezieht.

Oder wenn eine Wohnung gesucht wird wie für die Ayo. Raus aus der Heimunterkunft in eine sog. Verselbständigungsgruppe – das war der nächste Schritt für das Betreuer-Duo Rossocha/Schneider. Das ist ein Haus, in dem die junge Frau eine eigene kleine Wohnung hat: „ein bemöbeltes Zimmer“, wie sie es in selbst bei der ersten Besichtigung lustig nannte.

Eine „Jogi Löw“ für Duisburg

Das Duisburger Team-Modell hat landesweit Vorbild-Charakter. Der Austausch ist offen und kollegial – auch zwischen verschiedenen Maßnahmenträgern. Die Anfänge waren pandemiebedingt mühsam, erinnert sich Barbara Aldag. „Die erste Sitzung mit der Geschäftsführenden Stelle und allen Teilhabemanager*innen fand sofort nach Jahresbeginn 2020 statt – anfangs mehrmals die Woche. Da mussten wir uns erst einmal kennenlernen.“ Die Organisationen - das sind neben dem Diakoniewerk Duisburg GmbH: die KH Qualifizierungs- und Vermittlungs-GmbH, Bildungszentrum Handwerk der Kreishandwerkerschaft Duisburg; Duisburger Werkkiste – Katholische Jugendberufshilfe gGmbH sowie der Verein für Kinderhilfe und Jugendarbeit Duisburg e.V. in Kooperation mit der Volkshochschule Duisburg (VHS).

Für die „Geschäftsführende Stelle“, das Büro Bildungsregion der Stadt Duisburg, hat Barbara Aldag diesen Job übernommen. Die frühere Abteilungsleiterin der Volkshochschule Duisburg profitiert von ihrer Verwaltungserfahrung. Sie weiß sich in den Behördenstrukturen und Gesetzesgrenzen sicher zu bewegen; sie findet immer den richtigen Ton; sie bremst und treibt an, je nach Bedarf. „Termine koordinieren, Sitzungen leiten, Fragestellungen bündeln: so sieht sie selbst ihre Aufgabe. „Es macht keinen Sinn, wenn verschiedene Teilhabemanager mit der gleichen Frage beim Ministerium anrufen“, nennt sie als Beispiel. „Das übernehme ich dann.“ Die Gruppe weiß das zu schätzen. „Sie ist unser Jogi Löw“, sagt Marion Rossocha lobend.

Licht und Schatten - nicht alle machen mit

Aktuell betreuen die Teilhabemanager*innen 200 Geflüchtete im Rahmen des Case Managements. Die meisten - derzeit 171 - werden in die Betreuung durch die Coaches weitergeben. 18 Geflüchtete nehmen an Qualifizierungsbausteinen teil, weitere zehn haben sich bereits angemeldet. „Mutmacher“-Beispiele wie die junge Geflüchtete aus Nigeria motivieren die Gruppe. Sie sind aber nicht die Regel. Der Alltag der Coaches und Teilhabemanager ist so bunt und vielfältig wie die Lebensgeschichten ihrer Klienten.

Coach Carolin D. erzählt von einem fast gleichaltrigen Mann aus Guinea, der allerdings – anders als Ayo – in seiner Heimat keine Schule besucht hat und sich schwertut hierzulande. „Er packte erst einmal einen Rucksack voller Briefe aus“, erinnert sich Carolin D.. Von Behördenpost bis zu Mahnungen zum Handy-Vertrag. Alltagsprobleme. Viele in der (virtuellen) Runde nicken.

In diesen Team-Sitzungen werden auch rechtliche Fragen besprochen und neue Erkenntnisse oder Erfahrungen ausgetauscht. Eine unschätzbare Informationsbörse, wie ein Beispiel zeigt: Julia Aichholzer vom Handwerks-Bildungszentrum berichtet von einem Workshop, an dem sie teilnahm. Da ging es um Fördermöglichkeiten für Praktika, die Geduldete dem deutschen Arbeitsmarkt näherbringen sollen. Die beiden Betreuer von Ayo horchen auf. Es geht um die Vermittlung in Pflegeberufe. Dort hat Aichholzer eine direkte Ansprechperson kennengelernt. Sebastian Schneider weiß, dass sein Schützling in dieser Sparte berufliches Interesse hat. Wieder mal ein Volltreffer durch das Netzwerk!

Nächster Schritt: Ausbildung

Davon erzählt er Ayo beim nächsten Treffen. Die junge Frau lächelt. Eigentlich möchte sie noch nicht arbeiten, sondern als nächstes den Realschulabschluss machen. Teilhabemanager und Coach schlagen einen Kompromiss vor: eine Berufsausbildung im Bereich „Kinder und Jugendliche“ kombiniert mit dem mittleren Schulabschluss? So oder so, will sie „Durchstarten“.

In Düsseldorf werden mit „coolen moves“ Netzwerke geknüpft

Es ist ein Leben „unter dem Radar“. In Nordrhein-Westfalen leben 23.000 geflüchtete, junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, die bei uns „nur“ geduldet, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Die Abschiebung kann ihnen täglich drohen. Ein Leben zwischen Frust, Angst und Hoffnung. Dabei sehen viele von ihnen ihre Zukunft in Deutschland. Die Landesprogramme „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ erkennen das Problem und ermöglichen Perspektiven. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, die jungen Migrant*innen aus der sozialen Isolation zu holen und mit der Gesellschaft ihrer neuen Heimat vertraut zu machen. Ein innovatives Projekt in Düsseldorf setzt dabei auf den Aufbau persönlicher, sozialer Netzwerke.

Die Uhr an der Wand ist auf Fünf vor Zwölf stehengeblieben. Rap-Musik wubbert aus dem Lautsprecher am Boden. Das nimmt Aamun genauso wenig wahr wie den abgewetzten Holzboden. Der junge Mann aus Nigeria ist ganz mit seinen Füßen beschäftigt, die irgendwie nicht das machen, was sie sollen. Gelächter. Seinen Mittänzern – zwei jungen Männern aus dem Irak und Afghanistan – geht es ähnlich. Dabei sieht es so leicht aus, wenn Tanzlehrerin Surena diese Tanzschritte vormacht. Sie motiviert die jungen Geflüchteten: „Gut. Ihr macht das gut….“ Die Männer lächeln verlegen.

Eindrücke von einem ganz besonderen Tanzworkshop im alternativen Kulturzentrum zakk in Düsseldorf-Flingern. Jeden Donnerstag lädt Aynur Tönjes von der Diakonie Düsseldorf einen Teil ihrer 40 Programm-Teilnehmenden – allesamt mit einer Duldung –ein. Mal wird getanzt, mal gesungen, mal Graffitis gesprayt. „Hauptsache raus aus der Isolation“, sagt Tönjes. „Menschen brauchen Menschen“ lautet ihr Credo. Mit dem Programm „Integration durch Social Networking“ setzt Düsseldorf das in die Praxis um. Das Programm wurde von Anna-Maria Weihrauch und Lisbeth Hürter vom Kommunalen Integrationszentrum (KI) beim Amt für Migration und Integration der Landeshauptstadt Düsseldorf entwickelt.

Das KI ist die geschäftsführende Stelle für die Umsetzung der beiden Landesinitiativen. Ausbildungshemmnisse abbauen, Brücken in die Mehrheitsgesellschaft bauen, Deutschkenntnisse jenseits der Schulbank verbessern: Dieser Ansatz wird als Projekt durch den „Innovationsfonds“ im Rahmen der Landesinitiative „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ gefördert. „Wir wissen alle: Beziehungen schaden nur dem, der sie nicht hat. Persönliche soziale Netzwerke sind ein wichtiger Unterstützungsfaktor. Gerade auch für geflüchtete Menschen. So ist die soziale Unterstützung nach Fluchterlebnissen ein wichtiger Schutzfaktor für ihre psychische Gesundheit“, erklärt Weihrauch die Bedeutung von sozialen Beziehungen. „Das ist auch der Grund, wieso wir dieses Programm entwickelt haben. Wir möchten die Menschen dabei unterstützen, sich ein verlässliches soziales Netzwerk aufzubauen – das erhöht ihre Teilhabemöglichkeiten langfristig ungemein“, ergänzt Hürter.

Ein Tanzkurs ist mehr als Freizeitgestaltung

In Düsseldorf gibt es aktuell 600 junge Erwachsene, die eine Duldung oder Gestattung haben. Sie leben in der Rhein-Metropole – aber schlecht integriert in ihrer eigenen Welt. „Sie sitzen in ihren Unterkünften ohne Zugang zur deutschen Kultur und Gesellschaft“, sagt Antonios Antoniou vom Multikulturellen Forum Düsseldorf. Hier setzt das Projekt an. „Wir wollen den Betroffenen eine Perspektive geben. Das stärkt ihr Selbstvertrauen und ist wichtig für ihre biografische Sicherheit.“

Als Coach der Landesinitiative weiß er: Gute soziale Netzwerke erhöhen die Chance, einen Ausbildungsplatz, eine Praktikumsstelle oder auch eine Arbeit zu finden. Ein gutes Beispiel ist Muhamad, den er betreut. Der 25jährige kam 2016 aus dem Irak nach Deutschland. „Er ist positiv und supermotiviert“, sagt der Coach, der seinen Programm-Teilnehmer auf eine Lehre vorbereitet. Das Ziel der Beiden: eine Ausbildungsduldung zu erreichen nach dem „3 plus 2-Modell“. Angestrebt ist eine Lehre zum Friseur.

Muhamad ist auf einem guten Weg, denn er hat sich herausgetraut aus seiner „Blase“. Dabei halfen ihm nicht zuletzt die Angebote aus dem Innovations-Projekt „Integration durch Social Networking“. Aynur Tönjes ist von der Bedeutung zutiefst überzeugt. Im Oktober 2020 legte die engagierte Programm-Koordinatorin los –trotz Corona-Lockdown und seinen Einschränkungen.

Die Maßnahme besteht aus vier Modulen und beginnt mit einer Art „Aufnahmegespräch“. Darin wird ausgelotet, welche „Netzwerke“ die jungen Flüchtlinge schon selbstständig aufgebaut haben. Aber auch, was ihre Wünsche, Interessen und – notfalls –ihre Defizite sind. Bevor die Geflüchteten an der Maßnahme teilnehmen können, findet erst ein Gespräch mit dem Teilhabemanagement statt. Das Herzstück der Landesinitiative. Die vier Teilhabemanager*innen – ebenfalls beim Amt für Migration und Integration verortet - sprechen mit den Geflüchteten über ihre Bedarfe und beruflichen Perspektiven und lotsen sie durch verschiedenen Maßnahmen der Landesinitiative. Ist der Wunsch da, neue Leute kennenzulernen, hilft „Integration durch Social Networking“.

Programmstart im Lockdown

Aynur Tönjes schaut auf die Uhr. Obwohl der Kurs schon begonnen hat, sind erst drei Teilnehmer da. Auch der Iraker Muhamad hatte sich angemeldet. Sie greift zum Handy. „Bei jungen Leuten sollte man - was das Thema ‚Pünktlichkeit‘ betrifft - flexibel sein“, sagt Tönjes augenzwinkernd und erinnert ihren Gesprächspartner freundlich an den Termin. Und tatsächlich: Minute für Minute treffen Muhamad und weitere „Tänzer“ ein. Nach einer halben Stunde sind es so viele, dass der Übungsraum zu klein ist und die Gruppe in den Biergarten des zakk umzieht.

Die ersten Angebote konnten – pandemiebedingt – nur virtueller Art sein. Und waren trotzdem wirkungsvoll. Ein junger Mann aus Guinea lernte beispielsweise über eine Online-Nachbarschaftsplattform zwei Frauen in seiner Umgebung kennen, die ihm nun bei der Wohnungssuche helfen. Andere fanden Nachhilfelehrer, die sie auf anstehende Schulprüfungen vorbereiten.

Vielfältige Gruppe – ein Ziel

In einer Übungspause erzählt Surena, wie sie sich selbst als kleines Mädchen schämte, vor anderen Menschen zu tanzen und nimmt den jungen Männern so die letzte Schüchternheit. Sie erzählen aus ihren Herkunftsländern und welche Bedeutung dort der Tanz bei Festen und in der Familie hat.

Das Tanzteam von Surena ist eine sehr heterogene Gruppe. Der eine ist schon seit zehn Jahren in Deutschland und freut sich über jedes weitere Angebot für soziale Kontakte. Neben ihm sitzt ein Mann aus Indien, der kaum Deutsch versteht. Was nicht verwunderlich ist, da diese Zielgruppe bisher von Integrationskursen ausgeschlossen war. Die Isolation ist selbst nach mehreren Jahren Aufenthalt groß. „Zuhause denke ich zu viel, und das macht den Kopf kaputt“, sagt ein Mann.

Mehr als nur ein Zeitvertreib

Das zeigt: „Integration durch Social Networking“ als Programmziel kann funktionieren und ist deshalb mehr als nur ein netter Zeitvertreib. „Sie müssen erleben, wie unsere Gesellschaft funktioniert“, sagt Antonios Antoniou. „Alltagsdinge, wie man sich am Telefon meldet oder dass man sich im persönlichen Gespräch in die Augen schaut.“ Es geht um Partizipation, um Teilhabe an der Gesellschaft. „Verbindungen stärken, stabilisieren und geben Sicherheit“, sagen die Programm-Macher in Düsseldorf.

Eine wichtige Zielgruppe in der Mehrheitsgesellschaft sind für Aynur Tönjes dabei die örtlichen Sportvereine. „Sport ist einer der besten Wege zur Integration“, sagt sie, meint damit aber nicht gesonderte Übungsgruppen für Geflüchtete, sondern die Regelangebote der Düsseldorfer Clubs. Gespräche mit dem Stadtsportbund und dem Düsseldorfer Sportamt in diese Richtung laufen.

Türen öffnen, Hemmschwellen abbauen

Es geht immer darum, Türen zu öffnen, Hemmschwellen abzubauen. Nicht nur in der Tanzgruppe, die inzwischen richtig Spaß an ihren „coolen moves“ hat. Vielleicht liegt es auch am entspannten Ambiente des zakk. Das ehemalige Fabrikgelände im Stadtteil Flingern ist eines der ältesten soziokulturellen Zentren der Landeshauptstadt. Geflüchtete sind hier ausdrücklich willkommen. Wer im Biergarten sitzen will, muss nichts zu essen oder trinken bestellen. Muhamad und seine Gruppe denken schon über einen Wochenend-Workshop inklusive Live-Auftritt nach. „Das ist ein sehr schöner Ort. Hier komme ich bestimmt noch einmal hin.“