chancen.nrw

Die Not der Flächenkreise: weite Wege und hohe Kosten

Die Not der Flächenkreise: weite Wege und hohe Kosten

Es ist ein Leben „unter dem Radar“. In Nordrhein-Westfalen leben 23.000 geflüchtete, junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, die bei uns „nur“ geduldet, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Die Abschiebung kann ihnen täglich drohen. Ein Leben zwischen Frust, Angst und Hoffnung. Dabei sehen viele von ihnen ihre Zukunft in Deutschland. Die Landesprogramme „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ erkennen das Problem und ermöglichen Perspektiven. In dünn besiedelten Gebieten wie dem Münsterland sind die Kommunen und die mit ihnen kooperierenden Träger vor eine besondere Herausforderung gestellt. Ein Beispiel aus Lengerich im Kreis Steinfurt.

Ali Sufa hört freundlich zu und lächelt auch manchmal, wenn über ihn gesprochen wird. Doch wenn der 22-Jährige selbst über sich redet, ändert sich unvermittelt die Stimmung im Raum. Er ringt nach Worten und blickt hilfesuchend aus dem Fenster, wenn er über seine Familie in Afghanistan spricht. Mit 13 floh er vor den Taliban, die ihn als Kinder-Soldaten einziehen wollten. Sein Vater und ein Bruder starben. Allein Ali Sufas Mutter lebt noch in Afghanistan. Sein jüngster Bruder ist aktuell auf der Flucht. Ali Sufa weiß nichts über seinen derzeitigen Aufenthaltsort und hat keinen Kontakt zu ihm. Wenn er über sie spricht, wird sein Blick noch trauriger, denn der Kontakt zu ihr ist spärlich.

Es fällt schwer, den Beschreibungen dieses konkreten, menschlichen Schicksals zuzuhören. Natalie Fröhlich-Primus hat immer wieder mit ihrem jungen Klienten solche Gespräche geführt, seit sie ihn im April (2021) als Coach im Rahmen von „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ kennenlernte. Und sie weiß, dass diese Erfahrungen von Gewalt und Tod nicht aus Ali Sufas Kopf verschwinden, Alpträume erzeugen und Schlaflosigkeit. Auch im fernen Münsterland. Auch in der friedlichen 22.000-Einwohner-Stadt Lengerich.

Acht Monate dauerte die Flucht, bis er in Lengerich landete. Hier hat er mittlerweile den Hauptschulabschluss gemacht und lebt mit einem Mann aus Sri Lanka in einer kleinen Wohngemeinschaft. Doch wie nun weiter? Ali Sufas Identität ist geklärt. Er hat eine Duldung und ist als Vollzeitkraft in einem kleinen, familiären Garten- und Landschaftsbaubetrieb tätig. Es gefällt ihm, an der frischen Luft zu arbeiten, erzählt er.

Gretchenfrage: Ausbildung oder Arbeiten?

Der Chef des GALA-Betriebs würde ihn lieber heute als morgen übernehmen, sagt Coach Natalie Fröhlich-Primus. Genau an dieser Stelle beginnt der Konflikt. Die Ausländerbehörde empfiehlt ihm, in der Firma eine dreijährige Lehre zu beginnen. Dies könne sich positiv auf seine Bleibeperspektive auswirken. Der junge Afghane will aber lieber als „normale“ Vollzeitkraft mitarbeiten. Des Geldes wegen. Er möchte bald den Führerschein machen, sich ein eigenes Auto zulegen – und am besten auch eine eigene Wohnung haben. Selbst an den „worst case“ denkt er. „Sollte ich abgeschoben werden, habe ich wenigstens ein kleines finanzielles Polster in Afghanistan.“

Natalie Fröhlich-Primus arbeitet in Lengerich für den Verein Lernen fördern e.V. und sitzt nun als Coach „zwischen den Stühlen“. Auch sie hält eine Ausbildung tendenziell für die bessere Lösung. Sie kennt aber auch Ali Sufas Argument, dass er die berufsbezogene Sprache („das GALA-Deutsch“) am besten als normaler Beschäftigter bei der täglichen Arbeit auf der Baustelle lernt, um mit diesem Wissen gut vorbereitet in die Berufsschule zu gehen. Beides – Sprachkompetenz und Berufskenntnisse – fördert Integration.

Die Anbindung an den ÖPNV

Was die Integrationsarbeit dagegen erschwert, ist die geografische Situation für Ali Sufa und die anderen. Der Kreis Steinfurt ist flächenmäßig der zweitgrößte in Nordrhein-Westfalen. Die Ost-West-Ausdehnung beträgt rund 60 Kilometer; in Nord-Süd-Richtung sind es mehr als 50 Kilometer. Die jungen Geflüchteten mit Duldung oder Gestattung leben in 24 Städten und Gemeinden weit entfernt voneinander. Zum Zeitpunkt der Antragstellung für das Teilhabemanagement zählte die Verwaltung etwa 750 potenziell Teilnehmende (Geduldete oder Gestattete zwischen 18 bis 27 Jahren).  Umgerechnet bedeutet das: In kleineren Kommunen sind es teilweise weniger als 20 Männer und Frauen.

Damit stecken die Verantwortlichen (und die Geflüchteten) in einer völlig anderen Situation als wären sie in einem Ballungsgebiet. Sie müssen lange Wege auf sich nehmen. Es kostet im Öffentlichen Personennahverkehr Zeit und Geld, um andere Menschen zu treffen oder an Förderangeboten teilzunehmen. Geld, das nach bestehender Rechtslage nicht erstattet wird. Zudem leben die Geflüchteten häufig am Rande der Ortschaften, die nicht immer optimal in die vorhandene Infrastruktur einbezogen sind, weiß Coach Natalie Fröhlich-Primus.

Die Konsequenz: Die Umsetzung des Sprachförderangebots im Rahmen von „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ ist aufgrund der Verteilung der potentiell Teilnehmenden, den Fahrtzeiten und unterschiedlichen Arbeitszeiten schwierig, wird aber weiterhin mit allen Beteiligten geplant. Und auch die Coaches stehen in Flächenkreisen vor größeren Herausforderungen als ihre Kollegen in der Großstadt. „Ein Betreuungsverhältnis von 1:20 – das Voraussetzung für die Förderung der Träger ist – war teilweise nur schwer einzuhalten“, sagt Stephanie Hieronimus vom Kommunalen Integrationszentrum des Kreises. Von den zusätzlichen Beschränkungen durch Corona-Auflagen ganz zu schweigen.

Bescheidener Wunsch: eine kleine Familie

Bei diesen erschwerten Bedingungen ist sie zufrieden, dass so viele junge Geflüchtete im Kreis Steinfurt überhaupt „bei der Stange“ geblieben sind. Bisher wurden über 200 Personen durch das Teilhabemanagement in das Programm aufgenommen, wovon 133 aktuell aktiv im Coaching beraten werden. „Das ist eine sehr erfreuliche Zahl, wenn man bedenkt, dass es sich um ein freiwilliges Programm handelt“, so Stephanie Hieronimus.
Die Bausteine Teilhabemanagement (3,5 Stellen) und Coaching (5,0 Stellen) werden flächendeckend im Kreis Steinfurt angeboten. Neben dem Träger Lernen fördern e.V. werden die Angebote vom Bildungsinstitut Münster e.V., dem Begegnungszentrum für Ausländer und Deutsche e.V. und der Stadt Rheine durchgeführt.

Die Projektkoordinatorin ist optimistisch, dass es mehr Fälle wie Ali Sufa aus Afghanistan geben wird, wo über das Berufsleben eine Integration in die hiesige Gesellschaft ermöglicht wird. Sie lobt die Bereitschaft der Firmen, Geflüchteten mit Duldung eine Chance zu geben. Auch wenn die bürokratischen Hürden abschreckend wirken können.

Der Lengericher Gartenbaubetrieb hält an Ali Sufa fest. Auch wenn sein Asylantrag bereits dreimal abgelehnt wurde. Was seine Wünsche für die nächsten Jahre sind? „Ich möchte gerne eine kleine Familie haben – ohne Stress und Sorgen. Das ist doch ein bescheidener Wunsch, oder“, fragt er und guckt in die Runde. Im Raum herrscht Schweigen.