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Yousef aus Syrien und sein „Fünf-Jahres-Plan“

Yousef aus Syrien und sein „Fünf-Jahres-Plan“

Es ist ein Leben „unter dem Radar“. In Nordrhein-Westfalen leben 23.000 geflüchtete, junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, die bei uns „nur“ geduldet, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Die Abschiebung kann ihnen täglich drohen. Ein Leben zwischen Frust, Angst und Hoffnung. Dabei sehen viele von ihnen ihre Zukunft in Deutschland. Die Landesprogramme „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ erkennen das Problem und ermöglichen Perspektiven. Welche Rolle dabei ein regelmäßiger Sprachunterricht im Klassenverband spielt, zeigt ein Beispiel aus Bielefeld.

An seine erste Unterrichtsstunde im Sommer erinnert sich Yousef noch ganz genau. Nach 20 Minuten wäre er am liebsten aufgestanden und hinausgegangen. „Ich kam mir so klein vor im Vergleich zu den anderen in der Klasse“, sagt der 19jährige Geflüchtete aus Syrien rückblickend. Heute ist er froh, dass er geblieben ist. „Ich habe hier in drei Monaten mehr gelernt als im ganzen Jahr davor“, sagt er mit ein bisschen Stolz in der Stimme.

Es ist tatsächlich ein „bunter Haufen“, der sich da jeden Morgen um halb neun in den Räumlichkeiten des Vereins IN VIA in der Herforder Straße in Bielefeld trifft. Da sitzt die vierfache Mutter aus Sambia, die anfangs nur ihren Volksdialekt sprach, neben dem Tamilen aus Sri Lanka und der Schülerin aus dem Irak. Eine Frau aus Nord-Mazedonien lebt seit acht Jahren in Deutschland, ihre Klassenkameradin aus Nigeria nicht einmal zwei. Allen gemein ist, dass ihr Aufenthaltsstatus (noch) nicht abschließend geklärt ist.

Deutschlehrerin Malgorzata Drozd, die selbst polnische Wurzeln hat, muss diese unterschiedlichen Vorkenntnisse unter einen Hut bringen. Heute steht der Gebrauch des Perfekts auf dem Stundenplan. Yousef ist an der Reihe, eine Frage für die anderen zu formulieren. „Wer hat am Wochenende gekocht?“ Vier, fünf Finger schnellen in die Höhe.

Als Minderjähriger die Familie verlassen

Yousef hatte keinen leichten Start hierzulande. Anfangs konnte er nicht einmal seinen Namen schreiben. Denn seine Familie flüchtete vor dem Bürgerkrieg in die benachbarte Türkei. Niemand brachte ihm dort Lesen und Schreiben bei. Noch als Minderjähriger verließ er Eltern und Geschwister Richtung Deutschland, wo er sich ein besseres Leben versprach.

Als Analphabet kam er sich sehr verloren vor – selbst in der „internationalen Förderklasse“ auf dem Berufskolleg, wo er an sich viele „Gleichgesinnte“ traf. Seinem Betreuer beim Bielefelder Jugendamt war schnell klar, dass bei diesen Voraussetzungen nur ein intensiver, kontinuierlicher Deutschunterricht helfen konnte.

Den Impuls für diese Maßnahme gab die Geschäftsführende Stelle der Landesinitiativen „Gemeinsam klappt’s“ / „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“. Die wird in Bielefeld von der REGE, der Regionalen Personalentwicklungsgesellschaft mbH, umgesetzt. Solche Sprachförderkurse nach dem Programm „Durchstarten“ können flexibel gestaltet einen Umfang zwischen 80 und 1.000 Stunden haben. Oliver Wittler von der REGE plädierte von Anfang an für die maximale Dauer. „Die Lehrkraft muss genügend Zeit haben, jeden Schüler und jede Schülerin mit ihrer individuellen Lebenssituation kennenzulernen.“ Lehrerin Drozd nickt. Sie hat auch Unterricht im Rahmen von Integrationskursen gegeben und nennt das 1.000-Stunden-Kontingent, das sie jetzt zur Verfügung hat, „traumhafte Bedingungen“.

Deutschkurs-Bewerbung mit Dolmetscherhilfe

Teilhabemanagerin Nadia Shehadeh erinnert sich an die Bewerbungsgespräche im Frühjahr. „Bei einigen ging das nur mit Dolmetscher oder auf Englisch.“ Beim jetzigen Unterrichtsbesuch ist sie begeistert von den Fortschritten. Mitte Juni war die Maßnahme gestartet – zunächst nur mit den „schwierigsten Fällen“ wie Yousef aus Syrien. Allmählich stießen dann auch die Schülerinnen mit etwas fortgeschritteneren Kenntnissen dazu. Im Sommer wurde eine kleine Ferienpause von drei Wochen gemacht.
Das besonders Attraktive des Kurses sind die Unterrichtszeiten. Es ist gewissermaßen ein „Teilzeit-Kurs“ – täglich von 8:30 bis 12:30 Uhr; immer in dem selben Raum der IN VIA, sodass die Teilnehmer Übungszettel zur Erinnerung an die Wand heften können.

Vor allem sind die Zeiten „familienfreundlich“. Mehrere junge Frauen geben ihre Kinder für diese Zeit in die Betreuung ab. Nino, eine zweifache Mutter aus Georgien, geht sogar vor dem Unterricht noch arbeiten: sie hat eine Teilzeitstelle als Schwesternhelferin in einem örtlichen Krankenhaus. Anschließend fährt sie direkt zum Deutsch-Unterricht. Andere arbeiten nach der Sprachschule am Nachmittag. „Die Alternative für diese jungen,
geflüchteten Männer und Frauen wäre: überhaupt kein Kurs“, sagt Nadia Shehadeh.

Fremde wurden zu Freunden

Malgorzata Drozd ist das Kunststück gelungen, diese 14 so unterschiedlichen Menschen zu einer Gemeinschaft zu machen. Einige von ihnen sind Freunde geworden. Sie machen Ausflüge oder gehen gemeinsam essen. Hat einer oder eine aus der Klasse Geburtstag, wird auch das gefeiert. Malgorzata Drozd hat mit ihnen „Wie schön, dass Du geboren bist…“ einstudiert. Selbstgebackener Kuchen ist wegen Corona tabu; abgepackte Törtchen müssen reichen.

Bis Mai 2022 dauert die Maßnahme. Geschäftsführende Stelle und Teilhabemanagement wollen die Kursteilnehmer auf die Zeit „danach“ frühzeitig vorbereiten. „Für uns ist wichtig, dass jeder und jede den individuell passenden Anschluss an den Kurs hat,“ sagt Oliver Wittler. Dazu wurden Kontakte aufgebaut zu verschiedenen Ausbildungseinrichtungen. Betriebsbesuche waren wegen der Pandemie-Beschränkungen nicht möglich.

Nino, die Krankenhaushelferin aus Georgien, hat sich vorgenommen, im kommenden Jahr die Prüfung im Sprachniveau B 1 abzulegen. „Dann kann ich mich bei einer Pflegefachschule bewerben“, sagt sie. Wittler nickt zufrieden. „Aus diesem Kurs darf niemand perspektivlos herausgehen.“

Deutsch-Kenntnisse sind das A und O

Alle Sprachenschüler sind sich einig, dass sie nur mit ausreichenden Deutschkenntnissen hierzulande Fuß fassen werden. Für den tamilischen Küchenhelfer und die Reinigungskraft aus dem Irak war das in ihren bisherigen Jobs nicht wichtig. Doch sie wollen mehr erreichen.

Auch Yousef aus Syrien kann sich nicht vorstellen, als Hilfskoch oder Reinigungskraft in Deutschland zu arbeiten. Zusammen mit seinem städtischen Jugendamts-Betreuer hat er einen „Fünf-Jahres-Plan“ aufgestellt, wie er es selbstbewusst nennt. „Sprachabschluss – Schulabschluss 9. Klasse – Schulabschluss 10. Klasse und dann eine Lehre als Kfz-Mechatroniker.“ Seine Eltern hätten gerne, wenn er zu ihnen zurückkäme ins Flüchtlingscamp in die Türkei. Doch Yousef stellt sich seine Zukunft hierzulande vor.